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OSINT als Recherchewerkzeug

  • Autorenbild: Stefan Siegel
    Stefan Siegel
  • 20. März
  • 3 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 23. März


Ein klassisches Szenario: Ein Reporter erhält ein Hinweismaterial – etwa ein Video oder Foto zu einem möglichen Kriegsverbrechen – und muss dessen Echtheit prüfen. Früher waren Journalisten stark auf Insider-Quellen oder Vor-Ort-Recherchen angewiesen. Heute können sie mit OSINT-Tools vom Schreibtisch aus beispielsweise die Geolocation eines Videos durchführen (also den Aufnahmeort ermitteln) oder die Aufnahmedatum überprüfen (z.B. anhand von Schattenlängen oder Wetterdaten). Solche Techniken ermöglichen es, Fakten zu verifizieren, ohne sich auf die Aussage einzelner Personen verlassen zu müssen. Das erhöht die Objektivität und Belastbarkeit journalistischer Recherchen enorm.



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OSINT_ Neue Wege im Journalismus



Bekanntes Beispiel Bellingcat: Die Plattform Bellingcat gilt als Pionier des OSINT-basierten Journalismus. Gegründet 2014 vom Briten Eliot Higgins, hat das internationale Recherche-Kollektiv in den letzten Jahren für Schlagzeilen gesorgt, indem es spektakuläre Enthüllungen ausschließlich mit offenen Daten durchführte​. So bewies Bellingcat mittels Analyse von Social-Media-Beiträgen, Videos und öffentlichen Daten den Ablauf des Abschusses des Passagierfluges MH17 im Jahr 2014 über der Ukraine​. Anhand von Facebook-Posts russischer Soldaten, frei zugänglichen Satellitenbildern und YouTube-Videos konnte rekonstruiert werden, wie ein russisches Buk-Raketensystem die Maschine abschoss – lange bevor offizielle Ermittler zu ähnlichen Ergebnissen kamen.





Ebenfalls Aufsehen erregte Bellingcats Recherche zur Vergiftung des ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal 2018 in Großbritannien: Durch Auswertung von Flugpassagierdaten, Überwachungskamera-Bildern und sogar Daten aus einer geleakten russischen Kfz-Datenbank konnten die Bellingcat-Journalisten zwei GRU-Geheimdienstoffiziere als Täter identifizieren​. Diese Beispiele zeigen, dass OSINT für investigative Geschichten über Krieg, Korruption oder Verbrechen enorme Durchschlagskraft hat.



Verifikation von Informationen: Ein wichtiger Anwendungsbereich von OSINT im Journalismus ist die Faktenprüfung (Fact-Checking). In Zeiten von Desinformation und „Fake News“ müssen Medien nachweisen können, dass ihre Informationen stimmen. OSINT hilft dabei, zum Beispiel falsche Bilder zu entlarven. Journalisten nutzen Rückwärtssuchen, um herauszufinden, ob ein vermeintlich aktuelles Foto in Wahrheit schon Jahre alt und aus einem anderen Kontext ist. Sie prüfen Profile in sozialen Netzwerken, um Bots oder erfundene Identitäten zu erkennen. So hat etwa das ARD-Faktenfinder-Team während Konflikten (z.B. Syrienkrieg, Ukrainekrieg) zahlreiche Gerüchte durch OSINT-Methoden überprüft und so Falschmeldungen entkräftet – oder echte Hinweise bestätigt, bevor offizielle Stellen reagierten.

Tabelle Vorteile Nachteile OSINT Analyse

Crowdsourcing und Zusammenarbeit: OSINT-Journalismus ist oft team- und communityorientiert. Weltweit haben sich Netzwerke gebildet, in denen Journalisten, Hobby-Detektive und Experten ihr Wissen teilen. Ein Beispiel ist die Community rund um den Hashtag #gerd (für “Geolocation DEtection”) oder das internationale Quizformat #Quiztime, bei dem täglich Nutzer versuchen, anhand eines Fotos Ort und Zeitpunkt herauszufinden. Solche spielerischen Übungen haben einen ernsten Nutzen: Sie schulen OSINT-Fähigkeiten und vernetzen Gleichgesinnte.

Wenn dann ein echter Recherchefall eintritt – etwa ein Video von möglicher Polizeigewalt auftaucht – kann die Community schnell gemeinsam arbeiten: Der eine kennt sich mit Satellitenbildern aus, der nächste spricht vielleicht die lokale Sprache und übersetzt, wieder andere überprüfen Details. Diese Schwarmintelligenz führt oft zu schneller Aufklärung. So gab es Fälle, in denen Twitter-Nutzer binnen Stunden den Aufnahmeort eines Propaganda-Videos identifizierten, während Behörden noch im Dunkeln tappten.


Ethik und Verantwortung: OSINT im Journalismus bringt große Verantwortung mit sich. Journalistinnen und Journalisten müssen sorgsam abwägen, welche Informationen sie veröffentlichen. Nur weil etwas auffindbar ist, heißt es nicht, dass es berichtenswert ist. Die Presseethik gebietet, Privatsphäre zu achten und beispielsweise Opfer oder unbeteiligte Personen zu schützen.

Ein Vorteil von OSINT ist, dass der Rechercheprozess transparent nachvollziehbar gemacht werden kann – gute Investigativberichte legen ihre Quellen offen (soweit möglich) oder erklären zumindest methodisch, wie sie zu ihren Erkenntnissen kamen. So kann die Leserschaft Vertrauen schöpfen, dass es sich nicht um Spekulation handelt, sondern um belegte Fakten.



Fazit: OSINT hat den Journalismus um mächtige Werkzeuge bereichert. Von der Lokalzeitung, die anhand von öffentlichen Bauakten eine brisante Story findet, bis zur großen Enthüllungsstory über internationalen Waffenhandel – immer häufiger spielen frei zugängliche Informationen die Schlüsselrolle. Wichtig bleibt jedoch die journalistische Kernkompetenz: Fragen stellen, Zusammenhänge verstehen und Geschichten erzählen. OSINT liefert das Material und die Belege; die journalistische Arbeit formt daraus eine verständliche und relevante Geschichte. Für Einsteiger im Journalismus bietet OSINT die Chance, mit wenig Budget hochwertige Recherchen zu betreiben. Für erfahrene Investigativ-Reporter ist es inzwischen unverzichtbarer Bestandteil ihres Handwerks. Die Verbindung aus traditioneller journalistischer Spürnase und moderner OSINT-Technik verspricht auch in Zukunft spannende Enthüllungen – zum Nutzen der Öffentlichkeit.




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